Die bildwissenschaftliche Analyse von Kunstwerken verschiedener Epochen erfordert unterschiedliche Methoden. Ein mittelalterliches Altarbild, die Renaissancedarstellung eines antiken Mythos, ein barockes Stillleben oder ein absolutistisches Herrscherportrait etwa verwenden eine Bildsprache aus Symbolen, Attributen, Typen und Kompositionsformen, die über Jahrhunderte hinweg Anwendung gefunden hat und der Vermittlung konkreter, erzählerischer Aussagen dient. Jedes kleine Detail wie eine erloschene Kerze, eine Blume, Tiere oder die Kleidung und Haltung einer Person können Aufschluss über die dargestellte Geschichte geben. Mittels der Ikonographie können solche Bildinhalte entschlüsselt werden.
Drüber hinaus lassen sich Kunstwerke in einen gesellschaftlichen, politischen oder funktionalen Kontext etc. pp. setzen. Was also kann ein Kunstwerk über sein Motiv hinaus über seine Zeit und seine Gesellschaft aussagen? Warum sind gerade zur Zeit der Kreuzzüge Mariendarstellungen besonders gefragt? Welches politische Kalkül liegt der Gestaltung des Krönungsornats Napoleons zu Grunde? Wie kommt es im Laufe der Jahrhunderte zur Entwicklung neuer Gattungen? Dient uns die Ikonografie zur Deutung der bildimmanenten Motive, hilft uns die Ikonologie dabei
größere Kontexte zu erfassen.
Auch die freie Kunst des 19. Jahrhunderts erfüllte kommunikative Funktionen und erzählt Geschichten, die es zu entschlüsseln gilt. Dabei brechen Künstler*innen wie Marie-Guillemine Benoist, William Turner oder Èdouard Manet provokativ mit tradierten Sujets, um aktuelle politisch-sozialkritische Themen anzusprechen, wie Prostitution, Versklavung oder das Elend der Arbeiterschaft.
Die Erfindung der Abstraktion im 20. Jahrhundert stellt einen noch gravierenderen Bruch mit der Kunstgeschichte dar. Erwin Panowsky selbst erklärt hier die Methode der Ikonografie für obsolet, da kein europäisch tradiertes Bildvokabular mehr Anwendung findet. Die Kunst Hilma af Klints, Wassily Kandinskys und Kasimir Malewitschs sprengen mit ihren gänzlich abstrakten Werken sowohl formal als auch inhaltlich den bisherigen Kunstbegriff. Die Moderne schlägt neue Wege ein
und liefert zugleich eine Vielzahl an erklärenden Manifesten.
Nicht nur gegenständliche Motive, auch die Farben selbst, die Beschaffenheit der Materialien, die Geste des*r Künstler*in und die Wirkung abstrakter Kompositionen erzeugen Bedeutung, indem sie Assoziationen anstoßen. Hans Dieter Huber legt 1989 an Hand eines Gemäldes von Robert Rauschenberg eine abstrakte Bildsprache dar, die sich durchaus entziffern lässt. Diese ist allerdings weniger festgelegt als die Ikonographie. Mit ihr einher geht die Erkenntnis, dass ein Kunstwerk nicht mehr in seiner Aussage eindeutig, sondern das Publikum interaktiv mit einer eigenen
assoziativen Deutungsweise am Werk beteiligt ist. Umberto Eco prägte 1962 in diesem Sinne den Begriff des „offenen Kunstwerks“.
Mit der Erweiterung des Kunstbegriffes entstehen immer wieder neue Kunstformen. Nach Tristan Tzara findet das Theater auf der Straße statt. Marcel Duchamp erklärt industriell gefertigte
Nutzgegenstände zur Kunst. Nach Joseph Beuys ist jeder ein Künstler, und nach Arthur C.
Danto zeichnet die Möglichkeit einen Gegenstand zu deuten, seine „Aboutness“ diesen als Kunstwerk
aus.
Der Artivismus des 21. Jahrhunderts löst die Grenzen zwischen Kunst und politischgesellschaftlichem Aktionismus auf. Was sind nun die Kriterien für ein Kunstwerk, und wie kann man es deuten?
Das Seminar widmet sich der Interpretation von Kunstwerken der europäischen Kunstgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dabei werden verschiedene Methoden vorgestellt und
zugleich ein erster Überblick über die Kunstgeschichte vermittelt. Im Rahmen eines Museumsbesuchs üben wir das Erlernte vor Originalen anzuwenden.
Lit:
Arthur C.
Danto, Beyond the Brillo Box: The Visual Arts in Post-Historical Perspective (1992), deutsch: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996
Umberto Eco, Opera aperta. (1962), deutsch: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973
Michael Hauskeller, Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis
Danto, München 1998
Hans Dieter Huber, System und Wirkung, Interpretation und Deutung zeitgenössischer Kunst, Beck’sche Reihe BsR 1254, München 1989
Erwin Panowsky, Meaning in the Visual Arts (1955), deutsch: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975